An Melissa

Liebe Melissa,

ich weiss gar nicht, ob du überhaupt noch weißt, wer ich bin.

Es muss jetzt bald über 10, 12 Jahre her sein, dass ich dir das letzte Mal geschrieben habe. Erinnerst du dich noch?

An unsere vielen langen E-Mails hin- und her, über den Atlantik und unsere endlosen Internet-Telefonate, bei denen es bei einem von uns beiden immer spät in der Nacht war. Du kannst das nicht vergessen haben. Ich erinnere mich noch genau: Deine seltsam raue Stimme, die so gar nicht zu deiner zierlichen Erscheinung gepasst hat. Das Jpeg-Foto von dir, in schlechter Qualität, mit der Fedora auf, auf dem du wie Winona Ryder aussahst. Dein süsses Kichern, das ganz plötzlich in lautes Lachen umschlagen konnte. …Und dein Weinen. Oh Melissa… Wie deine Stimme gezittert hat, wenn du erzählt, so verzweifelt und gottverlassen geschluchzt und tapfer weitererzählt hast, bis du nur noch flüstern konntest. Ich höre sie noch immer. Sie ist leiser geworden, über die Jahre tiefer in mich eingesunken, doch immer noch da. In der Stille umgibt sie mich wie eine Kathedrale.

Ich wollte mir das Leben nehmen.

Und du mich retten. Und andersherum. Irgendwie. Auch dir ging es nicht so gut. Ganz und gar nicht. Wie du mal gescherzt hast, dass wir beide gar nicht 5000 Kilometer über die Ozeane voneinander getrennt sind, sondern eigentlich ganz nah beisammen — zusammen in der Hölle.

Irgendwann wollten wir es dann beide tun. Ein transatlantischer Selbstmordpakt. Grosses Kino. Und haben es dann doch nicht getan.

Weil wir beide Feiglinge waren oder vielleicht die Hoffnung an etwas Gutes, das da vielleicht doch noch kommen könnte, nie ganz aufgegeben haben.

Was soll ich sagen? Das Gute ist nie gekommen. Und ich bin immer noch ein Feigling. Ich habe Tag und Nacht Angst. Es frisst mich auf. Doch schlimmer — und das war sie schon immer — ist die Einsamkeit. Stetiges Silberrauschen in meinen Venen.

Weißt du noch, wie du mir von dieser großen Fensterfront-Glasscheibe in eurem Wohnzimmer erzählt hast und wie du, wenn deine Eltern nicht zuhause waren, dein Gesicht ganz fest an sie gedrückt und geweint hast? Sie war so kalt und dunkel. Als würde sie Licht schlucken, richtig? Und immer hat es draussen geregnet, hast du gesagt. Das habe ich nie vergessen und es mir immer wieder vorgestellt. Wie du da so zusammengekauert an einer dunklen Fensterecke sitzt und deine Tränen mit dem Regen fallen. Und über dir, der wütende Himmel mit seinem ewigen Regen und keine Gnade für Keinen von uns. Und wie du immer gehofft hast, vom Regen weg- und mitgespült zu werden und irgendwo allein in aller Ruhe zu ertrinken. Die ganze Welt in deine Lungen und deinen Körper zu lassen, damit sie dich von innen sprengt. Damit du dich endlich wieder fühlst. Damit dieser Schmerz endlich abfliessen kann.

Deine Worte hallen noch immer in mir. Sie suchen nach dir. Sie tun immer noch weh. Sie waren das Traurigste, das ich in meinem Leben je gehört habe, Melissa.

Du hattest mir euren dunklen Garten vor der Fensterfront und hinter eurem Haus beschrieben. Wie still und unheimlich er war. Als würden alle Geräusche und die Zeit gleich dazu, darin verschwinden. Wie du dich immer gewundert hast, dass du nie, auch nur einen einzigen Vogel, in ihm gesehen hast. Wie eure dichtgepflanzten Palmen, der ganze Stolz deiner Stiefmutter, mit ihren langen Blättern im Wind getanzt haben, wenn es geregnet hat. Und die Holzveranda, und das große Hängelicht mit der Kerze und den orientalischen Mustern aus Leder… Wirklich seltsam, dass ich mich noch an all diese Sachen erinnern kann, liebe Melissa.

Ich hoffe, du lebst.

Ich hoffe du bist auch feige geblieben und hast dich nicht umgebracht, meine liebe liebe Melissa.

Ich hoffe, du hast diese gottverdammte, lichtschluckende Scheibe, raus zum zeitverschlingenden Garten, irgendwann einfach in tausend Stücke zerschlagen, sitzt jetzt am Frühstückstisch mit einer heissen Tasse Kaffee und tust dich schwer diese Zeilen zu lesen, weil deine spielenden Kinder dich nicht in Ruhe lassen. Und sie glucksen fröhlich und lachen und du lachst und dein Mann lacht. Und du bist glücklich.

Ja, ich hoffe du bist endlich glücklich. Nichts anderes hast du verdient.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich an dich gedacht habe, liebe Melissa. Beim Gehen durch die Innenstadt, durch den Strom von Abertausenden von Menschen, beim Autofahren, im Zug. Wenn der Regen mich auf der Strasse erwischt hat und ich trotzdem nicht schneller gelaufen bin. Im Bett, schon dösend und kurz vor dem Einschlafen, wenn die Gedanken wandern, keinen Sinn mehr ergeben und man dann schließlich einschläft.

Immer wenn ich mich einsam fühle, denke ich an dich. Und ich fühle mich immer einsam, Melissa.

Dann überlege ich mir, wo du wohl gerade bist und was du gerade tust. Was du gerade denkst und ob du vielleicht sogar lachst. Ob du gerade hoch zum Himmel schaust, dir die Sterne anschaust und dich wie ich, so unendlich verloren fühlst.

Manchmal, Melissa, male ich mir in Tagträumen aus, wie es wohl wäre, wenn du dich dazu aufmachen würdest, mich zu finden und irgendwann in der Fußgängerzone plötzlich vor mir stündest. Dann würde genau in diesem Moment der Regen einsetzen und wir würden beide klatschnass werden und uns nur ansehen. Dann würdest du meine Hand nehmen und mir ins Ohr flüstern, dass ich alles in meinem Leben einfach stehen und liegen lassen soll, um mit dir für immer wegzugehen — und nie, nie wieder zurück zu kommen.

Keine Sekunde würde ich zögern, Melissa.

Wir wären weg und niemals wieder auffindbar. Nie wieder einsam. Nie wieder nur ich, nie wieder nur du. Nie wieder verloren.

Nie. Wieder. Hier.

Wir würden die Welt bereisen, gemeinsam auf den höchsten Klippen stehen und die Sonne im Meer versinken sehen. All die Schönheit dieser Welt und all das Licht…

Doch oft, wenn ich müde und erschöpft bin, male ich mir aus, dass du doch kein Feigling warst und jetzt nicht mehr da bist. Dass du dir irgendwann einen Stuhl aus der Esszimmer-Ecke gepackt hast und — in Zeitlupe — in die Fensterfront geschmettert hast. Ein plötzliches Netz aus sich ausbreitenden Rissen auf der Scheibe, zerberstendes Glas, umherfliegende Splitter, ohrenbetäubender Lärm — alles immer noch ganz, ganz langsam. Und du mittendrin. Vielleicht schreiend, ganz bestimmt sogar. Und die Kamera, langsam um dich herum kreisend. Mit all den großen und kleinen, messerscharfen Glassplittern um dich herum in der Luft eingefroren. Dann alles ohne Ton. Still. Oder mit Klaviermusik.

Nie habe dich mehr vermisst als jetzt, Melissa.

Doch du stehst einfach nur da und atmest den Duft von Regen und nasser Erde ein, während die Realität um dich herum immer dunkler und dunkler wird. Und eine Träne rinnt dir die heisse Backe hinunter und du kneifst dein Auge zusammen und beisst dir trotzig auf die Lippen. Und in deinem Garten wehen die Palmen traurig im Wind und wollen mit dir tanzen, während alle Zeit langsam in ihm verschwindet. Dann, ganz plötzlich, drehst du deinen Kopf etwas und rammst ihn mit voller Wucht in den größten Glassplitter, der aus dem klaffenden Loch der zerbrochenen Fensterscheibe ragt und mein Schrei zerreißt gellend die Szenerie. Ein Lichtblitz und weiß.

Weiß. Das Foto von dir. Jpeg in Web-Qualität, verpixelt und klein. Warum hatte ich nie ein Besseres? Deine kurzen, braunen Haare, deine großen, braunen Augen, dein zaghaftes Lächeln ohne Zähne zu zeigen und dein scheuer Blick. Im Hintergrund dein lautes, immer plötzliches Lachen.

Dein Körper ist in sich zusammengesackt, dein Kopf hängt immer noch in der Scheibe, die Glasspitze durch dein Auge tief in deinen Kopf gebohrt. Deine blaugraue Jeans. Deine kurzen Tennissocken unter deinen baren Knöcheln. Deine leblosen halboffenen Hände, entspannt in der Luft baumelnd. Dein weißes Lieblings-T-Shirt mit dem „Tier“ von den „Muppets“ hinter seinem überdimensioniertem Schlagzeug sitzend, vorne drauf und „Rock and roll animal“ als Hippie-Schriftzug darüber. Blut, wie Regen, das versöhnlich aus deinem aufgespießten Gesicht an deinen Hals herunter rinnt und dein weißes T-Shirt langsam und still dunkelrot einfärbt. Kein Vogel im Garten. Kein Geräusch. Keine Zeit und kein Licht mehr übrig.

Nie wieder Regen.

Wenn du diese Zeilen liest, und ich hoffe dass du sie noch lesen kannst, wobei… wenn nicht… Melissa, so oder so — am Ende werden wir uns wiedersehen. So funktioniert das doch mit Seelenverwandten, oder? Was für einen Sinn hätte das Leben denn sonst? Liebe, als stärkste physikalische Konstante im Universum. Nur darum geht es doch, richtig? Sich gegenseitig die Seelen zu retten und mit beiden Händen für immer an seinem Herzen zu halten.

Ja, so möchte ich meinen letzten Brief an dich und mein letztes Lebenszeichen abschließen.

Meine Liebe, Melissa. Pass auf dich auf, egal wo du bist. Jeder Herzschlag von dir ist Goldwert. Alles was du tust ist richtig.

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Omid Golbasi