Nightflight

Sagen wir mal, ich frage meine Familie, Freunde, und Arbeitskollegen, was sie sich unter einem gelungenen Abend nach einem anstrengenden Tag vorstellen… was würden sie so sagen? 

Gemütlich in der lauen Sommernacht im eigenen Garten, am besten an einem kleinen Feuer, sitzen, mit einem spritzigen Kaltgetränk in der Hand. 

Oder sich in den eigenen vier Wänden, in denen sie es sich so schön gemütlich wohnlich eingerichtet haben, unter einer Decke, auf der Couch, einkuscheln und vielleicht reden oder einen dicken Schmöker lesen. Sonntags einen Tatort schauen. 

Den Tag in einer heißen Wanne mit entspannenden Badeölen ausklingen lassen, mit einem guten Wein / Buch. 

Oder Mal, sich schon ganz früh am Abend, frisch geduscht in ihr neu bezogenes Bett legen und bei offenem Fenster zu einem Podcast oder Audiobuch, langsam einzuschlafen. 

Pizza bestellen und mit der ganzen Familie sich den Bauch vollschlagen und danach gemeinsam einen Adam-Sandler Film gucken. 

Oder fein Essen gehen, ganz romantisch. Feiern gehen, Party machen!

Wenn man mich fragt, dann ist die Antwort schon immer gewesen: 

In der Nacht unterwegs sein. 

Wie damals, als meine Mutter mich im Iran, nachts in den Mittelgang (!), auf eine rosa Decke auf den Boden (!!!) gelegt hat, in diesen „Iran-Peyma“-Bussen (kann man sich vorstellen, wie die „Greyhound“-Busse in Amerika) mit denen sie von Teheran, raus zu ihrer Mutter nach Rezaie gefahren ist. Ich erinnere mich immer noch und ganz genau, wie ich da unten mitten auf dem Gang lag und das Geräusch der Räder und Reifen hörte. Das stetige weiße Rauschen des grossen Busmotors, dieses unendliche Rauschen des Alphalts. Und die gedämmten roten Lichter auf beiden Seiten unten und oben entlang des Ganges.

Wie damals, als ich mit meinem Vater für irgendwelche Logistikjobs eines Nachbarn nach Frankreich gefahren bin, anstatt in die Schule zu gehen, um ihm Gesellschaft zu leisten, damit er auf der Nachtfahrt nicht einschläft.

Wie damals, als ich von Huntsville Alabama in den Staaten per „Greyhound“-Bus nach Kalifornien gefahren bin und wir nachts durch die texanisch-mexikanische Wüste gefahren sind und ich in der Ferne Blitze sehen konnte, so wie man sie auf hochwertigen Kalendern manchmal sieht. Motiv: Wüste mit langen Blitzen, die von hoch oben im Himmel komplett runter gehen, bis auf die Wüstenerde. Viele gleichzeitig nebeneinander. Ein unvorstellbares Spektakel. Da der Sitz neben mir frei war, hatte ich mich hingelegt, rausgeschaut und auf meinem leicht-defekten Walkman (!) die „Host“ von „Paradise Lost“ gehört. Und später, als die Walkman-Batterien ihren Geist aufgegeben haben, habe ich dem schwarzen Fahrer gelauscht, der angeregt mit einer schwarzen Frau, die warum auch immer nach vorne gekommen war und irgendwann neben ihm saß, geredet hat. Ich fand das unendlich spannend, in die Leben von Menschen reinzuhören, die so weit weg von meinem Heimatland ihre eigene Realität mit einer anderen Kultur hatten. Ausserdem schienen die beiden sich gegenseitig zu gefallen und haben viel miteinander gelacht (wenn auch leise, weil die meisten schliefen) was ich… einfach so… menschlich schön fand.

Wie damals, als ich noch als Schüler, mit meinem besten Freund Klaus mit dem Auto meines Vaters in Richtung Freiburg zu seiner neuen Bekanntschaft fuhr und wir nachts, langsam weil Schneefall, eine weiße Winterlandschaft durchquerten und zu den verträumten Piano-Klängen von „Tiamat“s Album „Skeleton Skeletron“ in einen langen, grell gelb beleuchteten Tunnel fuhren und beide total, ja – verzaubert waren – von der dichten Atmosphäre des Momentes. Wie im Film „Mulholland Drive“ von „David Lynch“ war das. Ein unvergesslicher Moment.

Wie damals, als ich mit 23 zum ersten Mal zu meiner Mutter in die USA geflogen bin und „zur Nachtzeit“ in dieser riesigen „Delta“-Maschine saß und bei gedimmtem Licht und leisem Flüstern anderer noch wacher Passagiere, aus dem Fenster schaute und vor Aufregung keinen Gedanken ans Schlafen vergeudete. Da mich das Schwarz hinter dem Fenster irgendwann langweilte, habe ich mir die Cabin-Crew Begleiterinnen, die regelmäßig durch die Gänge liefen und ihren Job gewissenhaft erledigten, während die meisten schliefen oder zumindest dösten, angeschaut und mich gefragt, ob sie wirklich so ein aufregendes Leben haben, wie man immer denkt. Oder ob sie nicht einfach nur müde und abgeschlafft sind, vom stressigen Berufsalltag. Da gab es diese rothaarige Stewardess, die einerseits schon „alterte“ und man in ihrem Gesicht sehen konnte, dass sie sicher schon viel mitgemacht haben musste und schon ein wenig alt und abgenutzt aussah und gleichzeitig eine klassische, zeitlose Schönheit besaß, die man ihr ebenfalls ansah. Eine alternde Schönheit war sie, ja. Unsere Blicke tragen sich irgendwann und sie lächelte mich nett und höflich an und ging dann wieder eilig ihrem Job nach. Wie professionell, dachte ich mir. Wer wusste schon, wie lange die Frau, die auch nicht mehr die Jüngste war, schon auf den Beinen war, wie lange ihre Schicht schon ging und in wie vielen Zeitzonen sie die letzten 24 Stunden überall schon war.

Wie damals, als ich auf der Fähre nach Dänemark war und in stockfinsterer Nacht draussen stand und in die schwarzen Wellen unter mir schaute, begleitet vom dumpfen Röhren der wahrscheinlich riesigen Motoren des Schiffes. Irgendwie gruselig und doch, ein unvergesslicher Moment I guess.

Wie damals, als ich alleine auf der Autobahn durch die Nacht fuhr, weil ich was erleben wollte und keiner mitgekommen war. Das Radio (nicht Spotify!) spielte einen geilen Song nach dem anderen, in der ARD-Popnacht und ich war entspannt, in freudiger Erwartung auf das Event zu dem ich fuhr und… ja, vielleicht war ich sogar glücklich.

In der Nacht reisen. Wach und unterwegs sein. Ja, das ist für mich der perfekte, gelungene Abend.

Meine Wurzeln sind so weit weg und unerreichbar, ich habe keine Wurzeln. Was soll ich dann an einer Stelle? Heimat? Deutschland ist ja voll ok und knorke und so, aber meine echten Wurzeln liegen in Teheran, im Iran. Und da ich da nicht hin kann, habe ich keine Heimat. Warum also dann nicht reisen?

Ein Reisender in der Nacht. Vielleicht in Tokio (will ich noch hin), oder Kairo (war ich schon), irgendwo in der amerikanischen Wüste, oder auch irgendwo in Deutschland, weit weg von meinem Alltagsmief an meinem ollen Alltagsplatz, wo sich nichts bewegt und ich immer nur einsam bin.

Life Lesson incoming: Das Reisen in der Nacht hilft gegen Einsamkeit. Auch wenn du alleine reist und unterwegs bist.

Auf der Autobahn, im Flugzeug, im ICE oder auch per Schiff. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich. Eine Momentaufnahme in Raum und Zeit und du in Bewegung. Was gibt es besseres? Raus hier, bloß weg. Nicht lange fackeln, das Abenteuer wartet. Alles ist neu und alle sind fremd – und unterwegs von A nach B.

Wie damals.

Omid Golbasi